Überlegungen über Mensch und Bürger

Überlegungen über Mensch und Bürger · Hermann Hesse

Der Mensch hat die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Geistigen, dem Annäherungsversuch ans Göttliche, hinzugeben, dem Ideal des Heiligen.

Er hat umgekehrt aber auch die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Triebleben, dem Verlangen seiner Sinne hinzugeben und sein ganzes Streben auf den Gewinn von augenblicklicher Lust zu richten.

Der eine Weg führt zum Heiligen, zum Märtyrer des Geistes, zur Selbstaufgabe an Gott. Der andere Weg führt zum Wüstling, zum Märtyrer der Triebe, zur Selbstaufgabe an die Verwesung.

Zwischen beiden nun versucht in temperierter Mitte der Bürger zu leben. Nie wird er sich ganz aufgeben, sich hingeben, weder dem Rausch noch der Askese, nie wird er Märtyrer sein, nie in seine Vernichtung willigen.

Im Gegenteil, sein Ideal ist nicht die Hingabe, sondern die Erhaltung des Ichs, sein Streben gilt weder der Heiligkeit noch deren Gegenteil. Unbedingtheit ist ihm unerträglich, er will zwar Gott dienen, aber auch dem Rausch, will zwar tugendhaft sein, es aber auch ein bisschen gut und bequem auf der Erde haben.

Kurz gesagt, er versucht es, in der Mitte zwischen den beiden Extremen sich anzusiedeln, in einer gemäßigten und bekömmlichen Zone ohne heftige Stürme und Gewitter.

Und dies gelingt ihm auch, jedoch auf Kosten jener Lebens- und Gefühlsintensität, die ein aufs Unbedingte und Extreme gerichtetes Leben verleiht. Intensiv leben kann man nur auf Kosten des Ichs.

Der Bürger nun schätzt nichts höher als sein ICH. Auf Kosten der Intensität also erreicht er Erhaltung und Sicherheit, statt Gott-Besessenheit erntet er Gewissensruhe, statt Lust Behagen, statt Freiheit Bequemlichkeit und statt tödlicher Glut eine angenehme Temperatur.

Der Bürger ist seinem Wesen nach also ein Geschöpf von schwachem Lebens-Antrieb und ängstlich, jede Preisgabe seiner selbst fürchtend, und deshalb auch leicht zu regieren.

Deshalb hat er auch an die Stelle der Macht die Majorität gesetzt, an die Stelle der Gewalt das Gesetz und an die Stelle der Verantwortung das Abstimmungsverfahren!

Überlegungen über Mensch und Bürger · Hermann Hesse · Essay

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Autor: Hermann Hesse

Bewertung des Redakteurs:
4

Das, was du bist, zeigt sich an dem, was du tust.

Thomas A. Edison